An zwei Europameisterschaften hat der Dribbelkünstler teilgenommen: 1984 in Frankreich und 1988 in Deutschland – einen Titel gab es nicht. Der folgte 1990 bei der WM in Italien. Heute ist Pierre Littbarski Markenbotschafter des VfL Wolfsburg. Mit 360° sprach er über Psychotricks, Gier und kleine Diven.
Herr Littbarski, Weltmeister sind Sie 1990 mit der deutschen Nationalelf geworden, Europameister in zwei Anläufen aber nicht. Woran lag’s?
1984 bei der EM in Frankreich lag es an uns. Da waren wir einfach schlecht und sind als Titelverteidiger verdient schon in der Vorrunde ausgeschieden. 1988 bei der EM im eigenen Land war es unnötig, dass wir das Halbfinale gegen die Niederlande verloren haben. Ich weiß noch, dass uns die Holländer vor dem Spiel völlig verunsicherten, weil sie uns keines Blickes gewürdigt und uns nicht einmal die Hand gegeben haben. Mich hat das total irritiert, war ich doch zum Beispiel mit Ruud Gullit gut befreundet. Wahrscheinlich saß bei ihnen der Stachel der WM-Final-Niederlage von 1974 immer noch tief. Außerdem hatten die Holländer mit Rinus Michels 1988 genau wieder den Trainer, der 1974 gegen Deutschland verloren hatte. Ich glaube, dass er seine Mannschaft deswegen besonders motivieren konnte. Gut kann ich mich noch erinnern: Nach dem Halbfinal-Aus waren wir tief enttäuscht. Aber noch heute bin ich überzeugt: Ohne dieses Erlebnis wären wir 1990 nicht Weltmeister geworden. Wir wollten diese Schmach unbedingt wettmachen – und das ist uns gelungen.
Haben Europa- und Weltmeisterschaften einen unterschiedlichen Stellenwert für Sie gehabt?
Überhaupt nicht! Als kleiner Junge habe ich immer davon geträumt, Nationalspieler zu werden. Deshalb habe ich jedes einzelne meiner 73 Länderspiele genossen. Außerdem ist die Leistungsdichte bei einer EM mit der Zeit immer größer geworden, weil die europäischen Ligen immer stärker wurden. Durch so ein Turnier marschiert man nicht einfach durch.
Der deutschen Elf ist das mit Ihnen aber 1990 bei der WM gelungen. Denken Sie an dieses Turnier am liebsten zurück?
Ja, aber das liegt gar nicht so sehr am Titelgewinn, sondern vielmehr an der Mannschaft. Mir war der Stil immer wichtig – und den hatten wir damals. Die Typen im Team waren super, was aber nicht dazu führte, dass wir uns alle nur in den Armen lagen. Im Training ging es auch mal verbissen zu. Diese Mischung war dann letztlich das Erfolgsgeheimnis.
Was braucht es, um ein Turnier zu gewinnen, das mehrere Wochen geht?
Wichtig ist ein guter Start – und noch wichtiger sind Durchhaltevermögen und die Gier auf den Titel. Es gibt viele Teams, die stark beginnen, dann als Geheimfavorit gelten, aber doch bald ausscheiden. Ihnen fehlt meist die Ausdauer – sowohl mental als auch körperlich.
Hat die deutsche Elf diese Tugenden?
Ich glaube, dass genügend Qualität und Erfahrung vorhanden sind, um Europameister zu werden. Vielleicht müsste es noch mehr Anschieber geben wie Joshua Kimmich oder Manuel Neuer. Super ist, dass Thomas Müller zurück ist. Er ist erfahren, aber hungrig und genau dieser Typ Anschieber. Er kritisiert, ohne Mannschaftskameraden gegen sich aufzubringen. Sie nehmen ihm ab, dass er nicht glänzen, sondern Positives für die gesamte Mannschaft bewirken will.
Wer wird Europameister?
Für mich zählen drei Teams zum Favoritenkreis: Weltmeister Frankreich, Deutschland und England, auch wenn die Engländer seit Ewigkeiten keinen Titel gewonnen haben. Ich liebe Außenseiter, vielleicht sind sie jetzt titelreif.
Auf welche Spieler freuen Sie sich besonders?
Auf Serge Gnabry und Leroy Sané von der deutschen Elf. Heutzutage brauchst du Leute mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Sie können mit ihrer Lauf- und Handlungsschnelligkeit die Spieler sein, die den Unterschied ausmachen.
Welche Rolle spielt es, dass das Turnier unter Corona-Bedingungen und mit deutlich weniger Zuschauern stattfindet?
Eine große! Fußballer – das meine ich nicht negativ und da nehme ich mich auch nicht aus – sind kleine Diven. Sie wollen zeigen, was sie können, und dabei gesehen werden. Die Stadion-Atmosphäre mit Zehntausenden von Zuschauern ist immer motivierend. Wenn sie fehlt, kann das leistungshemmend sein.